Leseprobe aus: Michael Ignatieff: Virtueller Krieg
(Rotbuch, Hamburg 2000) Deutsch von Angelika Hildebrandt
Moralische Straflosigkeit
Der Militäreinsatz im Kosovo erreichte seine Ziele, ohne dass auch nur
ein Soldat der NATO im Kampf gefallen wäre. Aus militärischer Sicht ist
das eine noch nie da gewesene Leistung. Unter ethischen Gesichtspunkten
verändern sich dadurch die Erwartungen an die moralischen Prinzipien
des Krieges. Die stillschweigende Vereinbarung des Kampfes war zu allen
Zeiten eine grundlegende Gleichheit der moralischen Gefährdung: Töte
oder werde getötet. Entsprechend beruft sich der Einsatz von Gewalt im
Krieg auf die Legitimität der Selbstverteidigung. Diese Vereinbarung
wird jedoch sinnlos, wenn eine Seite anfängt, ungestraft zu töten.
Anders gesagt, ein Krieg ist dann nicht mehr gerecht, wenn er zu einem
Truthahn-Schießen wird. Unser Gegner im Kosovo lag zwar nicht danieder
- die serbische Luftabwehr feuerte bis zum letzten Tag der Luftschläge
-, doch die Auseinandersetzung war so ungleich, dass die NATO ihr
Gefühl der moralischen Überlegenheit nur bewahren konnte, wenn sie sich
an besonders strenge Luftkampfregeln hielt.
Die NATO stellte diese Regeln - mit denen Opfer unter der
Zivilbevölkerung vermieden werden sollten - so dar, als seien sie ein
Zeichen ihrer moralischen Überlegenheit. Ebenso gut könnte man
argumentieren, ihr wirklicher Zweck sei gewesen, das Unbehagen der NATO
darüber zu mindern, dass ihr Vorgehen keinerlei Strafe nach sich ziehen
würde. Wären die militärischen Einsatzkräfte der NATO ebenso großen
Risiken ausgesetzt gewesen wie die des Gegners, dann hätte die NATO
entschieden, ja sogar brutal reagiert. Wäre eines ihrer Schiffe
versenkt worden oder hätte sie eine erhebliche Anzahl von Piloten
verloren, dann hätte sie sicher ihre Luftüberlegenheit als Strafe und
flächendeckend eingesetzt. Die Zurückhaltung der NATO war vor allem
durch ihre militärische Überlegenheit und weniger durch das Gewissen
allein diktiert. Wo nicht beide Gegner dasselbe Risiko tragen, muss der
Schaden minimiert werden.
Der Rechtsphilosoph Paul Kahn von der Yale University argumentiert,
ğrisikolose Kriegsführung zur Verteidigung der MenschenrechteĞ sei ein
moralischer Widerspruch. Das Konzept der Menschenrechte setzt voraus,
dass jedes menschliche Leben gleich viel wert ist. Risikofreie
Kriegsführung hingegen impliziert, dass unser Leben mehr wert ist als
das Leben derer, für die wir uns einsetzen. Heißt das, dass wir unser
Leben in die Waagschale werfen müssen, um unsere moralische
Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen? Ist ein Krieg erst dann
legitim, wenn es auf bei den Seiten dasselbe Blutbad gibt? Sicherlich
nicht. Interventionen, bei denen die Zahl der Toten auf beiden Seiten
möglichst gering gehalten wird, müssen die bessere Strategie sein. Das
Risiko als solches ist ganz offensichtlich ohne Wert, und jeder
Kommandierende, der seine Sterne verdient hat, wird alles tun, um mit
möglichst geringen Verlusten unter seinen eigenen Streitkräften zu
siegen. In Wahrheit geht es um die Frage, ob risikofreie
Kriegsführung überhaupt funktionieren kann.
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