Leseprobe aus: Flem, L.: Casanova oder Die Einübung
ins
Glück
(Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998) Deutsch von Angelika
Hildebrandt
Der Körper als Kulisse
»Natur im Gleichgewicht«
Die Wichtigkeit der körperlichen Verfassung Casanovas wird
immer
wieder deutlich. Sein Körper glüht, fließt über,
explodiert.
Flüssigkeiten, Stimmungen, Fieberanfälle durchziehen seine
Lebenserinnerungen. Das Vokabular der Körperlichkeit buchstabiert
in
kruder Nacktheit die Leidenschaften seiner Seele. Zorn lässt ihm
die
Galle überfließen, sein Speichel schmeckt bitter, Wut
benebelt seine
Sinne, im Gefängnis, in dem er nackt auf einem Stuhl sitzt, dringt
Schweiß aus seiner Haut und rinnt rechts und links an ihm herab,
in der
alchimistischen Paarung mit der Marquise d'Urfe verbinden sich
Schweiß,
Puder und Pomade...
Casanova ist ganz Körper. Abwechselnd gesund und krank,
vibrierend,
exzessiv, unmittelbar. Emotionen, Gefühle, Verlangen inkarnieren
sich
sofort in Adern und Magen, vergiften sein Blut, verdrehen ihm den Kopf.
Gezügelte Empörung lässt ihn am ganzen Körper
erbeben, Ärger lässt ihn
sichtlich abmagern, heftige Überraschung und tiefe
Ohnmachtsgefühle
wirken harntreibend. Als er meint, man habe ihn zwangsrekrutiert,
erlebt er »einen so starken Orgasmus«, dass er das
Gefühl hat, in
weniger als einer Stunde suchten alle seine
Körperflüssigkeiten »einen
Ausgang ..., um sich aus ihrem angestammten Ort zu entleeren«.
Als er
erfährt, dass Manon Balletti den ihm unbekannten Architekten des
Königs
François Blondel heiraten wird, der es wagt, »ein
Mädchen zu ehelichen,
das mir gehörte und das als meine Frau galt«, ist er so
empört, dass er
ihn umbringen will. Der Zorn raubt ihm den Schlaf.
Der leere Magen benebelte mir den Kopf, und als ich mich wieder
gefasst hatte, erinnert er sich, ließen mich die
Wutanfälle,
die mir die Seele zerrissen, wirre Selbstgespräche führen.
Er ist sich ganz sicher, dass »die Wut den Menschen umbringt,
wenn es
ihm nicht auf die eine oder andere Art gelingt, sich von ihr zu
befreien«. Eine Frau, die ihn hasst, bringt ihn zum Erbrechen,
sein
Bedürfnis nach Rache raubt ihm ebenso den Schlaf wie die Nachricht
von
einem unerwarteten Glücksfall. Leidenschaftliche Liebe lässt
seine
Lippen erblassen, sein letzter Angriff im Liebeskampf ist von Blutungen
begleitet. Die freizügige Nonne aus Murano entdeckt entsetzt auf
ihren
bespritzten Brüsten »seine mit Blutstropfen vermischte
Seele«. Sorge
dich nicht, mein Engel, der Dotter vom letzten Ei ist oft rot, erklärt
er ihr ruhig.
Sein Körper glüht. Seine Worte sind Ausdruck der in
Körperflüssigkeiten
materialisierten Stimmungen, die ihn und seine Gefährtinnen
beseelen:
Blut, Schweiß, Speichel, Milch, Tränen, Sperma, weibliche
Ausscheidungen. Der Körper verflüssigt sich, ergießt
sich, ist offen
für alle Kreisläufe. Er spricht hemmungslos über alle
Säfte und
Ausdünstungen. Bettlaken, von einer Fehlgeburt besudelt, die fahle
Farbe einer Wunde, die volltönenden Fürze einer Geliebten,
die Spritzer
seiner »Unkeuschheit«, als er in einer Marseiller Spelunke
»englische
Überzieher« anprobiert. Casanova notiert sämtliche
Bekundungen seiner
Körperlichkeit. Keine ist ihm zuwider oder lässt ihn
gleichgültig. Er
geht der Welt mit stets wachen Sinnen voraus. Wenn der
Memoirenschreiber eine Szene rekonstruiert, erinnert er sich an
Gerüche, Geschmack, Tastempfindungen, Geräusche und Gesichte.
Für ihn
gibt es kein anderes Leben als das des Körpers, in dem sich die
Vernunft inkarniert, die nicht von ihm geschieden ist. Die Sinnlichkeit
ist ein Grundprinzip seiner Existenz, eine Philosophie der Lust.
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