Leseprobe aus: Greg Campbell: Tödliche Steine
(Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002) Deutsch von Angelika
Hildebrandt
VORWORT
Der Preis der Diamanten
Camp der Ärzte ohne Grenzen für Amputierte und Kriegsversehrte,
Freetown, Sierra Leone, Sommer 2001
Ismael Dalramy verlor seine Hände im Jahr 1996 durch zwei rasche
Axthiebe. Er erinnerte sich nicht mehr - oder konnte es nicht - an den
Schmerz der Hiebe. Doch er wusste noch, dass er mit der Gewehrspitze
aufgefordert worden war, seine Handgelenke auf einen hölzernen Stumpf
zu legen, an dem das Blut seiner Nachbarn herablief, die sich um ihn
herum auf der Erde krümmten und versuchten, das aus ihren Armen
fließende Blut zu stillen.
Dalramy erinnert sich, dass die Aktion schnell und methodisch
durchgeführt wurde - das Opfer vor ihm in der Reihe wurde rasch
weggestoßen, plötzlich sah er einen blutigen Holzblock und eine
ungeduldig drängende Bande schwer bewaffneter Teenager, die mit ihren
Tagesbefehlen fertig werden wollten. Er kämpfte nicht gegen die Männer,
die ihn gefangen genommen hatten, und er bat nicht um Gnade. Er nahm
nur einen grob gearbeiteten Metallring, den sein Sohn angefertigt
hatte, von einem Finger seiner linken Hand und steckte ihn in seine
Tasche - eine der letzten Aufgaben, die seine Hände für ihn erledigten.
Bis zu jenem Morgen, als die Rebellen der Revolutionary United Front
(RUF) die Stadt mit Raketen und Gewehren angriffen und in Pick-ups
durch die Straßen jagten, deren Führerhaus sie abgesägt hatten, um sie
in Mordfahrzeuge ohne Dach zu verwandeln, konnte man leicht meinen, es
sei genug Zeit zu fliehen, wenn es notwendig werden sollte. Das feuchte
Dschungeldorf Koidu, in dem Dalramys Familie seit Generationen gelebt
hatte, ist ein Zentrum der Rohdiamantenproduktion im Osten Sierra
Leones. In den Monaten vor dem Tag, an dem Dalramys Hände von der RUF
amputiert wurden, war Koidu zunehmend von Kräften der Rebellen
eingeschlossen worden, die durch den dichten Palmen- und
Bananendschungel krochen. Gelegentlich kamen die Banditen der RUF in
die Stadt, um Nahrungsmittel und Nachschub zu stehlen und die Bewohner
zu bedrohen, doch ein Großangriff schien wenig wahrscheinlich. Obwohl
es nicht so aussieht - Koidu ist wie viele Buschdörfer in Sierra Leone
eine Ansammlung von braunen Hütten und rötlich lehmigen Straßen -, ist
in dem Krieg, der diese westafrikanische Nation seit 1991 zerriss,
lange Zeit verbissen um das Gebiet in der Umgebung dieses Dorfes
gekämpft worden. Seitdem britische Geologen erstmals in den dreißiger
Jahren in den Dschungeln Sierra Leones Diamanten entdeckten, hatten
Minenbetreiber aus den kleinen, im Regenwald verstreut liegenden
schlammigen Gruben einen der wertvollsten Diamantenschätze der Welt
gehoben. Diese kleinen Klumpen und Brocken milchweißer
Kohlenstoffkristalle werden zu wertvollen Schmuckstücken verarbeitet,
die auf den Händen und Handgelenken, am Hals und an den Ohren von
Menschen in der ganzen Welt zur Schau gestellt werden, von denen viele
wahrscheinlich nie etwas von Sierra Leone gehört haben. In dem Krieg
der RUF bezahlten Menschen wie Dalramy mit ihren eigenen Händen für
diesen weit entfernten Luxus.
zurück zur Bücherliste | Startseite |